Herr Heusgen, im Bundestag hat die Union der Bundesregierung gerade Versagen vorgeworfen, da die Diskussion über die erste Nationale Sicherheitsstrategie „völlig aus dem Zeitrahmen gefallen und von Ressortegoismen bestimmt“ sei. Stimmt das?
Der Fairness halber sei gesagt, dass in den 16 Jahren unter Kanzlerin Angela Merkel nie eine solche Strategie geschrieben wurde. Zu Beginn war ich als ihr außen- und sicherheitspolitischer Berater sehr geprägt von meiner vorherigen Tätigkeit beim damaligen EU-Außenbeauftragten Javier Solana. Unter diesem hatte ich an der ersten europäischen Sicherheitsstrategie mitgewirkt. Seinerzeit war Joschka Fischer Außenminister und hatte durchaus mit Selbstbewusstsein vorgetragen, eine nationale Strategie mache keinen Sinn, weil man Sicherheit nur im europäischen Rahmen garantieren könne. Wir hatten zudem die Weißbücher aus dem Bundesverteidigungsministerium, und es war schon schwer genug, diese hinzubekommen. Also auf der Agenda der Merkel-Regierungen standen weder eine Sicherheitsstrategie noch die Einrichtung eines Nationalen Sicherheitsrats mit einem Nationalen Sicherheitsberater. Aber die neue Bundesregierung hatte eine Nationale Sicherheitsstrategie in den Koalitionsvertrag aufgenommen – und die Zeiten sind nach dem russischen Überfall auf die Ukraine jetzt andere.
Sie waren zwölf Jahre im Kanzleramt, danach Botschafter bei den Vereinten Nationen und jetzt leiten Sie die Münchner Sicherheitskonferenz. Wie nehmen Sie die Debatte über die Sicherheitsstrategie, die die Ampel erarbeiten will, wahr?
Es wird sicher gelingen, das veränderte Umfeld der deutschen Politik exzellent zu beschreiben. Aber das reicht nicht. Wichtig ist es, daraus operative Schlussfolgerungen zu ziehen. Wir haben viele Verkrustungen in der Außen-, Entwicklungs- und Sicherheitspolitik, und diese aufzureißen ist schwierig. Aber wenn nicht jetzt, wann dann?
Christoph Heusgen im Februar in München
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Bild: dpa
Nun wurde die Sicherheitsstrategie nicht zur Münchner Sicherheitskonferenz vorgestellt, und alles deutet darauf hin, dass es frühstens im Mai so weit sein wird – klar ist aber schon: ein Nationaler Sicherheitsrat wird nicht eingeführt. Ist das Papier also schon eine Enttäuschung?
Wohl wissend, dass es wahnsinnig schwierig würde, hatte ich mir dennoch gewünscht, dass wir jetzt einen Nationalen Sicherheitsrat bekommen. Ich bin nicht enttäuscht, ich habe nur gedacht, dass sich unter dem Eindruck der aktuellen Lage das Kanzleramt und das Auswärtiges Amt einigen und auch das Auswärtige Amt, das schließlich die Federführung beim Erarbeiten der Sicherheitsstrategie hat, diesen Weg einschlägt. Stattdessen scheint sich wieder die Angst durchgesetzt zu haben, dass durch einen Sicherheitsrat noch mehr Kompetenzen ins Kanzleramt abwandern würden. Eine verpasste Chance.
Was für einen Unterschied würde ein Sicherheitsrat in der aktuellen Situation denn machen?