Serap Güler zum Erdbeben in der Türkei: Flüchtlingswelle möglich

Frau Güler, Sie stehen im Gespräch mit Bürgermeistern in den vom schweren Erdbeben betroffenen Regionen in der Türkei. Wie schätzen Sie die Lage ein?

Dramatisch! Es ist wirklich, wirklich dramatisch! Ich habe mit dem Bürgermeister von Adana telefoniert, mit dem Krisenstabsleiter aus der Region. Dort wird jede nur erdenkliche Hilfe gebraucht: Jetzt in der Akutphase geht es um so viel Muskelkraft wie nur möglich, dann um Zelte, Decken, Medikamente.

Das Beben war heftiger als jenes von 1999 in Istanbul und der Marmararegion, bei dem mehr als 17.000 Menschen ums Leben kamen.

Das Erdbeben 1999 war schon sehr schlimm. Der gravierende Unterschied war: Es war im Sommer. Durch die aktuellen Witterungsverhältnisse, durch Temperaturen um den Gefrierpunkt, durch Schnee und Regen ist es jetzt noch mal heftiger sowohl für die Betroffenen als auch für die Rettungskräfte. Unglaublich viele Menschen haben schlicht und einfach kein Dach mehr über den Kopf, sitzen im Freien. Ich habe in den vergangenen Stunden mit Freunden dort und mit Leuten hier in Deutschland gesprochen, die in der Region Familie haben. So gut wie alle haben entweder ihr Haus, ihre Wohnung verloren oder können nicht mehr in ihre eigenen vier Wände, weil das Haus evakuiert wurde.

In der nun betroffenen Region sind auch viele syrische Flüchtlinge untergekommen.

Das kommt dazu. In der Türkei gibt es insgesamt etwa vier Millionen Flüchtlinge, mehr als zwei Millionen davon stammen aus Syrien. Das hat in den vergangenen Jahren schon zu sozialen Spannungen geführt. Mit Blick auf die Wahlen im Mai sind diese Spannungen besonders groß. Denn alle Parteien machen auch über die Flüchtlingspolitik Wahlkampf. Die Türkei führt gerade die Diskussion, die wir 2015 und 2016 hier bei uns in Deutschland hatten. Präsident Erdogan hat vor zwei, drei Jahren über syrische Flüchtlinge noch als Brüder und Schwestern gesprochen, für die man verantwortlich sei, die in der Türkei eine neue Heimat gefunden hätten. Er bot ihnen die Staatsbürgerschaft an – zuletzt sprach er über Abschiebungen.

Welche flüchtlingspolitische Brisanz steckt in der furchtbaren Katastrophe – wie sehr spitzt das Erdbeben die soziale Situation zu?

In dieser Region, wo es wegen der vielen Flüchtlinge schon Spannungen gab, könnte die Erdbebenkatastrophe zu einer Verschärfung der Spannungen führen – und zwar entlang solcher Fragen wie: Wer bekommt zuerst Hilfe, wer wird wie versorgt? Ich hoffe, dass das nicht passiert, dass die Menschlichkeit an erster Stelle steht. Aber wegen der beschriebenen gesellschaftlichen Verwerfungen steht das leider im Raum.

Ist mit einer neuen Flüchtlingswelle zu rechnen, weil die Türkei womöglich auf Jahre hinaus nicht mehr wie bisher Auffangregion für Flüchtlinge aus Syrien sein kann?

Eine neue Flüchtlingswelle ist durchaus möglich. Ich gehe aber zunächst einmal von einer Binnenmigration innerhalb der Türkei aus. Wir kennen das Phänomen in Europa ja schon seit Jahren, dass sich in den Wintermonaten Menschen aus Balkanregionen zu einer Saisonmigration gen Norden aufmachen. Umso wichtiger ist, nun allen Erdbebenopfern so schnell wie möglich in ihrer Region das Nötigste zu verschaffen: ein Dach über dem Kopf, Nahrung, Medikamente. Es ist enorm bedeutsam, dass die internationale Gemeinschaft sofort aktiv geworden ist. Mittlerweile haben mehr als 70 Länder Hilfe zugesagt.

Als Konsequenz aus dem Beben 1999 hat die Türkei die Katastrophenschutzbehörde AFAD gegründete. Wie gut funktioniert deren Arbeit?

Nach dem, was ich mitbekomme, gut. AFAD hat ihre erste große Bewährungsprobe 2015/2016 übrigens mit der Flüchtlingskrise in der Türkei gehabt. Die Helfer waren superschnell darin, Zeltstädte aufzubauen. Es gibt heute schon in der Schule Katastrophenschutzübungen und -seminare für Kinder und Jugendliche. Das Besondere an der Behörde ist: Sobald es zu einer Katastrophe kommt, läuft die Leitung und Steuerung von der kommunalen über die internationale Hilfe zentral über AFAD.

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