Putins Jahr verlief nicht, wie er es erhofft hatte

Russlands Angriff auf die Ukraine ging in seine dritte Woche, da sagte Wladimir Putin Mitte März eine „na­türliche und notwendige Selbstreinigung“ der russischen Gesellschaft vo­raus: „Jedes Volk, und umso mehr das russische Volk, kann immer aufrichtige Patrioten von Abschaum und Verrätern unterscheiden und spuckt diese einfach aus, wie eine zufällig in den Mund ge­flogene Mücke.“ Das war ein Gruß an die Zehntausenden, die un­mittelbar nach dem Überfall auf die Ukraine gegen den Krieg protestiert oder Russland fluchtartig verlassen hatten.

Für diejenigen, die geblieben waren und sich ruhig verhielten, sollte weiter das wichtigste innenpolitische Ver­­spre­chen der zwei Jahrzehnte währenden Herrschaft Putins gelten: Stabilität. In seinen ersten beiden Amtszeiten als Präsident Anfang des Jahrhunderts war damit die Wiederherstellung eines ge­ordneten Lebens nach der Gesetzlosigkeit, dem wirtschaftlichen Niedergang und den politischen Wirren infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion ge­meint. Im Laufe der Zeit hat sich die Bedeutung des Versprechens von „Stabilität“ gewandelt: Gemeint ist damit seit Langem nicht mehr eine Wende zum Besseren, sondern die Verhin­derung eines Rückfalls in schlechtere Zeiten.

Am Ende dieses Jahres ist die an­gekündigte „Selbstreinigung“ für Russland zu einem intellektuellen Aderlass geworden, an dessen Folgen es noch lange tragen wird. Hunderttausende ha­­ben ihrer Heimat in­zwischen den Rü­cken gekehrt. Der größte Teil davon sind gut ausgebildete junge Menschen.

Gegangen sind auch die größten Rock- und Popstars, die bedeutendsten Schriftsteller der Ge­genwart, unzählige Schauspieler und Regisseure, Wissenschaftler und Hoch­­schuldozenten, erstklassige Journalisten. Zugleich ha­ben die Nieder­lagen der russischen Ar­mee in der Ukraine, die teilweise Mo­bil­machung und die immer dramatischere Wirtschaftskrise das alte Versprechen des Kremls außer Kraft ge­setzt, dass Putins Herrschaft den Russen ruhige Zeiten garantiere.

„Vor unseren Augen wird eine neue Epoche geboren“

Worauf Wladimir Putin für das Jahr 2022 gehofft hatte, wird in einem Kommentar deutlich, den die staatliche russische Nachrichtenagentur am Morgen des dritten Kriegstages versehentlich veröffentlicht hat. In dem Text, der kurz darauf wieder von der Website der Agentur heruntergenommen wurde, wird der Sieg Russlands über die Ukraine gefeiert. „Vor unseren Augen wird eine neue Epoche geboren“, lautet der erste Satz des Textes.

Russland habe seine nationale Einheit wiederhergestellt, die Ukraine als vom Westen gelenktes „Anti-Russland“ werde es nicht mehr geben: „Die Ukraine ist zu Russland zurückgekehrt.“ Zu verdanken sei das Wladimir Putin, der „eine – ohne die geringste Übertreibung – historische Verantwortung auf sich genommen hat, als er entschied, die Lösung der ukrainischen Frage nicht künftigen Generationen zu überlassen“.

Putin am 9. Mai 2022, dem Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland, bei einer Parade auf dem Roten Platz in Moskau.


Putin am 9. Mai 2022, dem Jahrestag des Sieges über Nazi-Deutschland, bei einer Parade auf dem Roten Platz in Moskau.
:


Bild: via REUTERS

Dann wird eine Niederlage des Westens in der Auseinandersetzung mit der „russischen Welt“ festgestellt: „Russland hat den Westen nicht nur herausgefordert – es hat bewiesen, dass man die Epoche der globalen Herrschaft des Westens vollständig und endgültig für beendet ansehen kann.“

Nichts davon ist eingetreten. Stattdessen hat Putin selbst Russlands politisches System unterminiert. Noch ist seine Macht zwar nicht akut in Gefahr. Die Aktivisten der demokratischen Oppo­sition sind im Ausland, in der inneren Emigration oder im Gefängnis. Russische Exilmedien berichten zwar über Un­zufriedenheit und Sorgen in der wirtschaftlichen und politischen Elite, aber niemand aus diesen Kreisen in Russland wagt es, dem Kurs des Präsidenten auch nur ansatzweise zu widersprechen. Wer viel zu verlieren hat, will nicht zu einer Mücke werden, die einfach ausgespuckt werden kann.

So etwas wie Kritik an der Führung des Landes kommt allenfalls von den Befürwortern eines noch härteren Vorgehens gegen die Ukraine. Sie sind lautstark: Zu ihnen gehören die führenden Propagandisten in Staatsmedien, die sich in den ersten Kriegswochen mit markigen Worten über den unvermeidlichen Zusammenbruch der Ukraine überschlugen und dann ausbleibende Erfolge, Rückzüge und schmähliche Nie­derlagen erklären mussten. Auf ih­rer Seite stehen Tschetscheniens Führer Ramsan Kadyrow und der Eigner der Söldnertruppe Wagner, Jewgenij Prigoschin.

Hinterlasse eine Antwort

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.