Perspektive auf jüdischen Widerstand stark machen

Sich der eigenen Geschichte zu vergewissern und darüber Zusammenhalt zu gewinnen gehört seit dem Auszug des Volkes Israels aus Ägypten zur jüdischen Identität. Angesichts auseinanderdriftender Strömungen im Judentum versucht der Zentralrat deshalb, nicht nur einen religionspolitischen, sondern auch erinnerungspolitischen Wandel einzuleiten. Einen Tag nach dem 80. Gedenktag an den Warschauer Ghettoaufstand hat er deshalb dazu aufgerufen, die eigene Per­spek­tive auf den jüdischen Widerstand in der Mehrheitsgesellschaft stark zu machen. „Dass uns dies gelingen muss, ist nicht banal“, sagte der Präsident der Zentralrats, Josef Schuster. Ausdrücklich gewarnt hat er davor, nur die Gefahren „postkolonialer Geschichtstheorie oder Holocaustrelativierungen“ zu sehen, dafür die Chancen, die sich daraus für einen „selbstbestimmten jüdischen Ansatz“ ergeben.

Heike Schmoll

Politische Korrespondentin in Berlin, zuständig für die „Bildungswelten“.

Schuster sieht viele Beispiele dafür, dass die jüdische Wahrnehmung an den Rand gedrängt wurde. Beim historischen Kniefall Willy Brandts im Jahr 1970 vor dem Denkmal des Ghettoaufstands ist der jüdische Bezug ausgeklammert worden, was an den historischen Umständen lag. Das „kommunistische Polen hat ein Interesse an der Betonung des polnischen Widerstands“, und die westdeutsche Gesellschaft sei vor allem mit der „teils radikalen Bewältigung der Täterschaft beschäftigt“ gewesen. Einen entscheidenden Grund sieht Schuster aber auch in „der Sprachlosigkeit der jüdischen Welt“. Das müsse eine Lehre sein: „Es kommt auf jeden von uns an. Eine ‚Entjudaisierung‘ der Geschichte, wie es manche Historiker nennen, darf nicht geschehen und sie wird nicht geschehen“, gab sich Schuster überzeugt.

„Jüdische Geschichte ist eine Geschichte des Mutes, des unbändigen Überlebenswillens und des Glaubens an sich selbst“, sagte er. Dafür stehe der Warschauer Ghettoaufstand in all seinen heroischen und gleichzeitig ernüchternd gescheiterten Facetten. Es sei daher an der Zeit, das Gedenken an den Aufstand fest im Kanon der deutsch-polnischen Geschichte sowie der Geschichte des Zweiten Weltkriegs zu verankern. In der jüdischen Erfahrung ist in seinen Augen angelegt, dass die Chance zum Überleben etwas mit Widerstehen zu tun hat.

Mindestmaß an Kultur, Bildung und Religion

Der Historiker Markus Roth vom Fritz-Bauer-Institut in Frankfurt verwies auf die Isoliertheit des Ghettos. Die Untergrundzeitungen auf Jiddisch oder Hebräisch seien oft die einzige Informationsquelle gewesen. Spätestens im Fe­bruar 1942 habe man im Ghetto von der Vernichtungspolitik der SS und dem Mord in Gaswagen und Konzentrationslagern gewusst; spätestens im Sommer sei klar gewesen, dass die Besatzer die Vernichtung aller Juden beabsichtigten. Dennoch wurde versucht, ein Mindestmaß an Kultur, Bildung und Religion aufrechtzuerhalten. Es habe im Ghetto eine regelrechte Gegenwelt gegeben, sagte die Historikerin Andrea Löw vom Zentrum für Holocaust-Studien am In­stitut für Zeitgeschichte München-Berlin.

Der Aufstand der Juden im Warschauer Ghetto war zwar heroisch, führte aber in den sicheren Tod. Hunderttausende wurden deportiert und ermordet. Über die Anzahl jüdischer Widerstandsgruppen gibt es nur Schätzungen. Waffen und Munition schmuggelten zumeist jüdische Frauen ins Ghetto. Die Widerstandsgruppen hätten sich in einem moralischen Dilemma befunden – weil sie mit dem bewaffneten Widerstand den Tod von Frauen und Kindern riskierten. Aus Löws Sicht muss es um eine Überwindung des „Opfernarrativs“ gehen, wozu die unterschiedlichen Formen jüdischer Selbstbehauptung genau betrachtet werden müssen. Dazu müssten auch die umfangreichen Archive des Ghettos weiter erforscht werden, über deren Sammlung Emanuel Ringelblum (1900 –1944) schrieb: „Falls keiner von uns überlebt, soll wenigstens das bleiben.“ Ringelblum hatte das Untergrundarchiv „Oneg Schabbat“ aufgebaut.

Unterdessen hat sich am Donnerstag unter dem Dach des Zentralrats der Jüdische Liberal-Egalitäre Verband (JLEV) gegründet. Neun jüdische Gemeinden oder Verbände werden aus der Union progressiver Juden (UpJ) austreten und haben eine eigene Organisationsstruktur gewonnen, weil sie die Auseinandersetzung der UpJ mit den Vorwürfen gegen den früheren UpJ-Vorsitzenden Walter Homolka als „befremdlich“ empfanden und ihre Kritik ignoriert wurde. „Der Zentralrat unterstützt alle Strömungen des Judentums gleichermaßen“, sagte Schuster bei der digitalen Gründungsveranstaltung. Das bedeutet auch, dass der Zen­tral­rat den JLEV nach dem Proporz seiner Mitglieder finanziell unterstützen und die Mittel für die UpJ um den Anteil der ausgetretenen Gemeinden kürzen wird.

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