Die Corona-Kurven weisen wieder langsam nach oben. Zwar ist die Sieben-Tage-Inzidenz mit neun nachgewiesenen Ansteckungen pro 100.000 Einwohner binnen einer Woche noch immer sehr niedrig – doch weil nach dem Ende der letzten staatlichen Corona-Maßnahmen im Frühjahr nur noch wenige Proben im Labor untersucht werden, ist die Zahl nicht mehr allzu aussagekräftig.
Im Abwasser der Haushalte steigt die nachgewiesene Viruslast dafür spürbar an. Nach Angaben des Bundesgesundheitsministeriums wurden zuletzt in 43 Prozent aller Messstationen im Land Coronaviren im Abwasser nachgewiesen, in der Woche zuvor lag der Wert bei 39 Prozent. Noch stärker steigt die Zahl der Arztbesuche. Zuletzt gingen binnen einer Woche 60 von 100.000 Einwohnern wegen einer Atemwegserkrankung im Zusammenhang mit einer Covid-19-Diagnose zum Arzt, in der Vorwoche waren es noch 29.
Fachleute gehen davon aus, dass die Infektionswelle im Herbst, bei der es neben Corona auch um die Grippe und andere Viruserkrankungen geht, nicht trivial sein dürfte. „Wir rechnen damit, dass die Hausarztpraxen auch diesen Herbst und Winter wieder an der Kapazitätsgrenze arbeiten werden“, sagt Markus Beier, der Bundesvorsitzende des Hausärzteverbands, der F.A.Z. In den Praxen sei die Zahl der zu behandelnden Infektionen vergleichsweise früh gestiegen. „Das betrifft verschiedene Erreger, aber auch Corona. Wirklich schwere Verläufe sind dabei zum Glück die Ausnahme“, sagt Beier.
Doch weil die Grippewelle in Australien, die oft einen Ausblick auf das spätere Infektionsgeschehen hierzulande ermögliche, vergleichsweise stark ausgefallen sei, rechnet der Mediziner mit einer hohen Fallzahl in Deutschland im Herbst. Beier sagt: „Wir müssen davon ausgehen, dass das Patientenaufkommen in unseren Praxen in den kommenden Monaten erneut extrem hoch sein wird.“
Einen Grund, abermals über staatliche Infektionsschutzmaßnahmen nachzudenken, sieht der Präsident der Bundesärztekammer, Klaus Reinhardt, deshalb aber nicht. „Vielmehr sollten die Menschen darin bestärkt werden, eigenverantwortlich mit potentiellen Risiken umzugehen“, sagt Reinhardt der F.A.Z. „Gerade Bevölkerungsgruppen mit Vorerkrankungen, Tumorpatienten oder Menschen mit Immunsuppression sollten für sich selbst abwägen, ob sie in bestimmten Situationen Maske tragen, zum Beispiel in der voll besetzten Bahn oder in stark frequentierten Innenräumen.“ Und wer sich krank fühle, solle zu Hause bleiben, rät der Mediziner. „Das gilt für Corona und für alle anderen Infektionskrankheiten auch.“
Länder beobachten die Lage genau
Diese Haltung entspricht der Wahrnehmung in den Bundesländern. Man beobachte die Situation genau, sagte Bayerns Gesundheitsminister Klaus Holetschek (CSU) der F.A.Z. „Mit dem freiwilligen Tragen von Gesichtsmasken kann man sich und andere schützen, etwa bei dem Besuch von Pflegeheimen.“ Die Hamburger Sozialbehörde rechnet mit einem Anstieg der Infektionszahlen im Herbst und Winter, hält die Lage aber für „aktuell nicht besorgniserregend“, wie eine Sprecherin sagte. Ähnlich beurteilt das zuständige Ministerium in Sachsen die Lage. Im Thüringer Sozialministerium hält man es für derzeit „unwahrscheinlich, dass es noch einmal zu einer großen Pandemiewelle kommt“, sagte eine Sprecherin.
Und das hessische Sozialministerium rät neben dem freiwilligen Masketragen auch wieder zu freiwilligen Corona-Tests. Das Gesundheitsministerium in Schleswig-Holstein rechnet mit einem „deutlichen Anstieg der Erkältungszahlen“, die nicht nur auf Corona zurückzuführen seien. Wenn verschiedene Erreger kursieren, könnte dass eine „saisonale Mehrbelastung in Praxen und Krankenhäusern“ auslösen, durch hohe Patientenzahlen und ausfallendes Personal. Eine neue „Taskforce Notfallversorgung“ soll die Lage im Land im Blick behalten.
Unklar ist, wie sich neue Varianten des Coronavirus auf das Infektionsgeschehen auswirken. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) wurden Anfang September neun Varianten des Coronavirus in Deutschland nachgewiesen, mit einem Anteil von fast einem Viertel die Rekombinante EG.10.1.