Das größte Manöver der NATO heißt Steadfast Defender und findet alle drei Jahre statt. Beim letzten Mal, 2021, musste es wegen der Pandemie ziemlich gestutzt werden. Beim nächsten Mal, im Frühjahr 2024, soll die Übung dagegen umso größer ausfallen: mit 40.000 Soldaten des Heeres, mehr als fünfzig Marineschiffen und mehreren Staffeln von Kampfflugzeugen.
Thomas Gutschker
Politischer Korrespondent für die Europäische Union, die Nato und die Benelux-Länder mit Sitz in Brüssel.
So etwas hat es seit den Reforger-Manövern im Kalten Krieg nicht mehr gegeben. Und das ist nicht die einzige Neuerung: Die Soldaten werden die gerade erst beschlossenen Verteidigungspläne der Allianz erproben – und zwar nach realistischen Szenarien.
„Wir werfen alle Kräfte, die wir in Übungen testen, in die schiere Wirklichkeit“, sagt der Mann, der die Übung plant. Gunnar Brügner, Brigadegeneral der Bundeswehr, 55 Jahre alt, ist im militärischen Hauptquartier der Allianz im belgischen Mons für Manöver verantwortlich. „Es geht darum, was der Feind wirklich kann. Es geht um Grenzen, die wir auf Karten zeigen. Und es geht um echte Geodaten.“
Früher hieß der Gegner „Bothnia“
Letzteres sieht er als größten Fortschritt. „Wenn man zum Beispiel die Zielauswahl nicht mit tatsächlichen Geodaten übt, von der obersten Ebene bis zur taktischen Ebene, wird man auch nicht auf die Probleme stoßen, die bewältigt werden müssen.“ So dürfen manche Ziele nur angegriffen werden, wenn der Oberkommandierende für Europa sie freigibt. Ob die Prozesse dafür schnell und effizient funktionieren, zeigt sich aber erst im konkreten Fall.
Bisher waren NATO-Soldaten es dagegen gewohnt, in sorgsam konstruierten Fantasiewelten Krieg zu führen. Der Gegner hieß lange Zeit „Bothnia“, eine Schein-Demokratie, die Mitglieder der Allianz bedroht, vorzugsweise an ihrer östlichen Flanke. Darum haben Planer ein ganzes Universum gebaut, das sie auf Übungen durchstreifen. Natürlich war Russland gemeint, aber dieser fiktive Staat hatte fiktive Straßen, Häfen, Grenzen.
Brügner kennt die Klage über künstliche Szenarien, er war selbst lange genug Truppenführer. Nach seiner letzten Verwendung in Afghanistan wollte er Anfang 2022 unbedingt nach SHAPE versetzt werden, wie das Hauptquartier nach seinem militärischen Akronym heißt. Jetzt sei die beste Gelegenheit, um Spuren zu hinterlassen, fand er, weil die Allianz mitten im Wandel sei.
Der begann schon vor dem russischen Angriff auf die Ukraine. Im Juni 2020 beschloss die NATO ihr „Konzept für Abschreckung und Verteidigung im euroatlantischen Raum“. Es spiegelte den Wandel von Kriseneinsätzen außerhalb des Bündnisgebiets hin zur klassischen Landes- und Bündnisverteidigung wider, allerdings unter den Bedingungen moderner Kriegsführung.
Auf den Manöver-Landkarten sind Russland und Belarus
Russland wurde darin nicht mehr als möglicher Partner, sondern als größte unmittelbare Bedrohung eingestuft. Auf dieser Grundlage entwickelte die NATO dann ein neues Streitkräftemodell und neue Verteidigungspläne; beides wurde beim Gipfeltreffen im Juli in Vilnius von den Staats- und Regierungschefs beschlossen. Erstmals seit dem Kalten Krieg werden große Truppenverbände wieder konkreten Einsatzszenarien zugeordnet. Und die müssen jetzt geübt werden.