Nach Krawallen in Frankreich: Die Gesichter der Wut

Die Eingangstür zum Gerichtsgebäude in Nanterre verbirgt sich hinter einer weiß bemalten Sperrholzverkleidung. „Polizisten sind Schweine“ hat jemand in roter Farbe darauf gesprüht. Die ursprüngliche Glastür haben Randalierer zertrümmert. „Der ganze Eingangsbereich ist verwüstet worden“, erzählt Gerichtspräsident Benjamin Deparis später in seinem lichtdurchfluteten Büro in der ersten Etage.

Auf dem Schreibtisch stapeln sich die Aktenordner. „Wir sind im Ausnahmezustand“, sagt der Gerichtspräsident. Denn während auf den Straßen die Ruhe zurückgekehrt ist, läuft die juristische Aufarbeitung der Ausschreitungen auf Hochtouren. Tagtäglich treten mutmaßliche Randalierer, Plünderer und Brandstifter zur „sofortigen Vorführung“ vor die Strafrichter.

Um die hohe Zahl der Vorgeladenen zu bewältigen, arbeiten Richter und Staatsanwälte auch am Wochenende. „Bis ein Uhr morgens am Samstag und auch am Sonntag von 9 bis 21 Uhr“, sagt der Gerichtspräsident. Der gesellschaftliche Druck sei groß, angesichts der Schäden in Höhe von geschätzt mehr als einer Milliarde Euro die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen. „Geben wir dem Druck nach? Die Antwort lautet weder ja noch nein“, meint der Gerichtspräsident.

Zu den Sonderschichten hätten sie sich freiwillig bereit erklärt, denn Nanterre sei das Epizentrum der Unruhen gewesen. Mehr Geld gebe es dafür nicht, weil es einfach nicht vorgesehen sei, dass das Gericht am Wochenende zusammentrete. Aber sie wollten zeigen, dass auf die Justiz in der Krisensituation Verlass sei. Zugleich sei es ihnen wichtig, dass nicht der Eindruck einer schlampigen Schnelljustiz entstehe. Im ganzen Land sind 3625 mutmaßliche Randalierer in Polizeigewahrsam genommen worden, darunter 1124 Minderjährige.

„Viele sind zutiefst schockiert“

Die Krawalle sind Deparis und seinen Kollegen sehr nahe gerückt. Der Trauermarsch für Nahel, den die Mutter des getöteten Jugendlichen organisiert hatte, mündete in schwere Ausschreitungen. Nur die Sicherheitsschranken, sagt Deparis, hätten die größtenteils vermummten Täter davon abgehalten, zu ihnen in den modernen Büroturm vorzudringen. Das Strafgericht von Nanterre hat in dem Geschäftshochhaus eine Etage angemietet, weil der benachbarte Gerichtspalast aus den Siebzigerjahren in Etappen saniert wird.

Für die anwesenden Richter, Staatsanwälte und Gerichtsdiener sei die Belagerung „ein Albtraum“ gewesen, meint der Gerichtspräsident. Zunächst konnte die Polizei nicht zu ihnen vorrücken, da die wütende Menschenmenge vor dem Gebäude zu groß war. Schließlich wurden die Justizbeamten über das Untergeschoss durch einen Hintereingang hinausgeschleust. „Viele sind zutiefst schockiert“, meint Richter Deparis. Das Strafgericht in Nanterre ist mit 120 Richtern, 40 Staatsanwälten und 429 Gerichtsbeamten das viertgrößte in Frankreich.

Spuren der Gewalt in Nanterre: Im ganzen Land wurden danach 3625 mutmaßliche Randalierer in Polizeigewahrsam genommen.


Spuren der Gewalt in Nanterre: Im ganzen Land wurden danach 3625 mutmaßliche Randalierer in Polizeigewahrsam genommen.
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Bild: Laif

Der 53 Jahre alte Gerichtspräsident kann es immer noch nicht ganz fassen, was sich vor seinen Augen in Nanterre ereignet hat. Ein Teil der Verfolgungsjagd des knallgelben Mercedes AMG mit den beiden Polizeistreifen auf dem Motorrad am 27. Juni spielte sich auf der mehrspurigen Straße ab, die er durch die breite Fensterfront immer im Blick hat. Der Sportwagen kann laut Angaben des Herstellers innerhalb von 3,9 Sekunden von 0 auf 100 Stundenkilometer durchstarten und raste „mit stark überhöhter Geschwindigkeit“ auf einer Busspur und einem Radweg.

Über den tragischen Ausgang wurde Deparis umgehend von der Polizei informiert. Der Polizist Florian M., der aus seiner Dienstwaffe eine tödliche Kugel auf den Fluchtfahrer Nahel M. geschossen hatte, wurde wenige Stunden später im Strafgericht von Nanterre zwei Untersuchungsrichtern vorgeführt. Sie entschieden, ein Strafverfahren wegen vorsätzlicher Tötung gegen den Polizisten einzuleiten, und verfügten, dass er zur Untersuchungshaft in das Pariser Gefängnis La Santé überstellt wird.

„Nahel, Ruhe in Frieden“: Aufschrift auf einem Métro-Wagen in Paris


„Nahel, Ruhe in Frieden“: Aufschrift auf einem Métro-Wagen in Paris
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Bild: AFP

Schon am Unfallort kam es zum Aufruhr. Die Großmutter des Jugendlichen Nahel, die von den Behörden telefonisch informiert worden war, sagte laut Polizeiprotokoll an der Unfallstelle: „Die beiden Polizisten werden nicht lebend davonkommen. (…) Es wird inschallah einen Terroristen geben, der sie massa­krieren wird.“

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