Das Bundesfamilienministerium antwortete vor Kurzem auf eine kleine Anfrage der Linken im Bundestag, dass in Deutschland im Jahr 2021 knapp 300.000 Krippenplätze fehlten, also Betreuungsplätze für Kinder unter drei Jahren.
Wibke Becker
Redakteurin in der Politik der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung
Eine naheliegende Frage, die sich daran anschließt, stellte die Linke allerdings nicht: Wem genau fehlen diese Plätze eigentlich? Wer geht in diesem ersten Wettbewerb bereits leer aus?
Diese Frage ist wichtig, weil die Krippe zwei Sachen zugleich ist: Sie ist ein Aufbewahrungsort für Kinder, deren Eltern arbeiten. Und sie ist ein Ort frühkindlicher Bildung. Die Wissenschaft ist sich weitgehend einig darin, dass vor allem Kinder von einem Krippenbesuch profitieren, die aus bildungsfernen Familien kommen oder aus Familien, in denen kein Deutsch gesprochen wird. Die Krippe kann diese Kinder unterstützen, damit sie mit ähnlichen Chancen in die erste Klasse starten wie ihre Mitschüler.
Gerade hat die sogenannte IGLU-Studie gezeigt, dass es in Deutschland nicht gelungen ist, die Kluft zwischen den Leistungen von Kindern aus bildungsfernen und akademisch geprägten Familien zu verkleinern. Es gibt deshalb politische Stimmen, die die Kita als Bildungschance stärker nutzen wollen, wenn es sein muss auch mit Zwang. Die schleswig-holsteinische Bildungsministerin Karin Prien hatte im Herbst gefordert, dass Kleinkinder, die schlecht in Sprachtests abschnitten, wenigstens das letzte Jahr, also mit fünf Jahren, in einer Kita betreut werden sollten.
Damals waren gerade die Ergebnisse des Instituts zur Qualitätsentwicklung im Bildungswesen veröffentlicht worden: Viertklässler konnten nicht mehr so gut rechnen, lesen und zuhören wie noch ein paar Jahre zuvor. Besonders verschlechtert hatten sich Kinder aus Familien, die eingewandert waren. Das Institut betonte, dass Leistung in der Schule mit der Sprache zu Hause zusammenhänge.
Wer schlecht Deutsch spricht, sollte in eine Kita
Der stellvertretende CDU-Vorsitzende und Chef-Organisator des neuen CDU-Grundsatzprogramms Carsten Linnemann unterstützte Priens Forderung. Er sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland im Januar, wer mit vier Jahren einen verpflichtenden Sprachtest nicht bestehe, „muss verpflichtend in die Vorschule oder in die Kita gehen, um deutsche Sprachkenntnisse zu erwerben“. Das wolle er auch im CDU-Grundsatzprogramm verankern. Kürzlich stellte er die Ergebnisse einer Umfrage unter CDU-Mitgliedern vor: Eine Pflicht, die Vorschule „bei mangelnden Sprachkenntnissen“ zu besuchen, befürworteten mehr als drei Viertel der CDU-Mitglieder.
„Kitapflicht“ suggeriert allerdings, dass der Staat eingreifen müsse, weil Eltern aus Einwanderungsfamilien ihre Kinder nicht in die Kita schicken wollten. Schon jetzt aber besuchen über 95 Prozent der Kinder in Deutschland das letzte Jahr in der Kita. Im Kindergarten gibt es nämlich mehr Plätze als in der Krippe. Außerdem ergab eine Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung 2018, dass die wenigen übrigen Eltern, die ihre Kinder gar nicht in den Kindergarten schicken, keineswegs mehrheitlich migrantisch sind oder ungebildet. Sie kommen aus allen Teilen der Gesellschaft. Es gibt also durchaus Einwanderer, die ihre Kinder nicht in die Kita schicken möchten.
Das gilt auch für die Krippe. Doch hier gibt es auch viele Eltern, die sich eigentlich eine Betreuung wünschen. Das hat gerade eine Studie des Bundesinstituts für Bevölkerungsforschung ergeben. Die Forscher haben nach Antworten auf die Frage gesucht, die die Linke nicht gestellt hat: Wer geht eigentlich im Wettbewerb um Krippenplätze leer aus? Und es zeigte sich: Es sind Kinder von Müttern ohne Abitur und Kinder aus armen Familien. Am schwersten haben es aber Eltern, die zu Hause kein Deutsch sprechen. Sie wünschten sich im Jahr 2020 häufiger als deutsch sprechende Familien einen Krippenplatz für ihre Kinder. Und trotzdem bekamen ihn nur etwa die Hälfte. Familien, die deutsch sprechen, erhielten in achtzig Prozent der Fälle einen Platz. Die Wirklichkeit sieht also so aus: Gerade die Kinder, die am meisten von der Krippe profitieren würden, bekommen in Deutschland seltener einen Platz.