Zeichnet die Migrationsforschung ein geschöntes Bild?

Im „Tagesspiegel“ erschien kürzlich eine Attacke zweier Kulturwissenschaftler auf das „Netzwerk Wissenschaftsfreiheit“, dem mehr als siebenhundert Professoren (teils Beiträger dieser Zeitung) angehören. Die beiden Autoren störten sich an der Kritik, die Mitglieder des Netzwerks in einem Sonderband der „Zeitschrift für Politik“ („Wissenschaftsfreiheit. Warum dieses Grundrecht zunehmend umkämpft ist“, hrsg. von Sandra Kostner, Nomos 2022) an ideologischen Tendenzen in der Migrations- und Geschlechterforschung geübt hatten.

Sonderbar war an dem Text, dass sich die Autoren nicht die Mühe einer konkreten Widerlegung machten, sondern sich damit begnügten, die Autoren des Sonderbandes einschließlich des gesamten Netzwerks in die rechte Ecke zu stellen. Man erfuhr also nicht, ob die Kritik berechtigt war. Vielmehr entstand der Eindruck, als betrachte man es als Majestätsbeleidigung, überhaupt kritisiert zu werden. Eine Wissenschaft, die sich nur durch Diffamierung zu verteidigen weiß, macht sich angreifbar für den Vorwurf, nicht nach wissenschaftlichen, sondern nach politischen Motiven vorzugehen, also den Vorwurf der Autoren des Sammelbandes zu bestätigen. Trifft er aber auch diese selbst?

Schauen wir uns einen der inkriminierten Beiträge des Bandes näher an. Der Migrationsforscher Stefan Luft kritisiert etwa die Einheitsdrift seines Fachs. Während der Corona-Krise gab es in der Wissenschaft vorsichtige Überlegungen, Gesprächspartner für Medien und Politik einer innerwissenschaftlichen Selektion zu unterwerfen. Der Anlass waren Forscher, die fehlende Expertise durch lautstarke Thesen kompensierten und die Bevölkerung in einer womöglich letalen Angelegenheit in die Irre führten. Breite Kreise haben die Erwägungen nicht gezogen. Zu sehr widerspricht die verordnete Einheitsmeinung den Prinzipien wissenschaftlicher Wahrheitsfindung.

Falsches Engagement

Die Migrationsforschung scheint hier eine Ausnahme zu sein, genauer gesagt, ihr politisch maßgeblicher Teil. Luft zitiert als Beleg den Migrationssoziologen Werner Schiffauer, der schon 2013 schrieb, mit der Gründung des Sachverständigenrates deutscher Stiftungen für Integration und Migration sei erreicht worden, dass „die Wissenschaft mit einer Stimme spricht – und dieser Stimme damit besonderes Gewicht zukommt“. Bei aller Freude über den politischen Bedeutungszuwachs: Ist das für die Wissenschaft ein Gewinn?

Die Migrationsforschung, ein Bündel verschiedener Disziplinen von der Soziologie bis zur Ethnologie, ist seit ihren Anfängen eng mit der Politik verbunden und wurde schon öfter mit dem Vorwurf konfrontiert, sie grenze sich nicht ausreichend vom politischen Aktivismus ab. Einige ihrer Akteure würden das wohl nicht einmal als Kritik verstehen.

Luft führt ein Zitat des Soziologen Michael Bommes vom Osnabrücker Institut für Migrationsforschung und interkulturelle Studien IMIS an: „Migrationsforscher treten (. . .) in ihrer Mehrheit für Migration und die Institutionalisierung von Freizügigkeit ein und unterstreichen dabei vor allem die von ihnen gesehenen gesellschaftlichen und individuellen Vorteile (. . .). Ausschlaggebend ist (. . .) ihre nahezu ungezügelte Bereitschaft, sich auf der Grundlage ihrer Forschung zu engagieren und mi­grations- bzw. integrationspolitisch Stellung zu nehmen.“ Nun ist politisches Engagement einem Wissenschaftler unbenommen, solange es nicht auf die wissenschaftliche Arbeit abfärbt. Nach Lufts Darstellung bewegt sich das Engagement der Wissenschaftler jedoch in politischen und ökonomischen Bahnen.

Das IMIS wurde lange Jahre von dem Historiker Klaus Bade, dem Nestor der Migrationsforschung, geleitet, der auch den Sachverständigenrat deutscher Stiftungen für Migration und Integration initiiert hat. Finanziell unterstützt wurde der Rat durch acht wirtschaftsnahe Stiftungen (Bertelsmann, Freudenberg, Hertie, Körber, Mercator, Vodafone, Volkswagen, Zeit), die sich, so Luft, teils auch für die öffentliche Resonanz seiner Publikationen einsetzten. Seit 2021 ist der Rat in die Förderung des Bundes übergegangen.

Wunschbild reibungsfreier Integration

Luft weist darauf hin, dass diese Stiftungen, wenngleich sie nicht in einem direkten Abhängigkeitsverhältnis zu den Unternehmen stehen, politische Interessen vertreten können, die im Einklang mit unternehmerischen Interessen stehen. Was sie auch täten: Besonders offensiv werbe die Bertelsmann-Stiftung für möglichst grenzenlose Mi­gration. Kritik werde pauschal als Ausdruck von Verlustängsten und Vorurteilen abgetan, was ganz im Interesse der Wirtschaft an einem unbegrenzten Angebot von Arbeitskräften für die Abwehr von Lohnforderungen liege.

Hinterlasse eine Antwort

Deine Email-Adresse wird nicht veröffentlicht.