Auch an der Osteuropa-Geschichte ist die Zeitenwende nicht spurlos vorübergegangen. Anders als in der Politik ist damit kein abrupter Kurswechsel gemeint, sondern die Frage, ob die Historiker zu oft und zu nachsichtig nach Russland geblickt und die Ukraine, deren nationale Einheit gerade so stark hervortritt, vernachlässigt haben. Schon nach der Krim-Annexion sprach Karl Schlögel von der schockierenden Abwesenheit des Landes in den intellektuellen Debatten, was er auch auf sein Fach bezog. Es habe einen Krieg gebraucht, um die Ukraine ins öffentliche Bewusstsein zu heben, und das sei bei den Historikern kaum anders gewesen. Ukrainische Historiker klagen, sie würden bis heute vom ständigen Hinweis auf den ukrainischen Nationalismus verfolgt, als sei die ukrainische Nation eine einzige Ausgeburt nationalistischer Bestrebungen.
Mit Blick auf die Institutionen ist die Kritik leicht nachzuvollziehen. Es gibt in Deutschland nur einen historischen Lehrstuhl, der explizit der Ukraine gewidmet ist. Auch im Gesamtkomplex der Osteuropageschichte gilt sie als unterrepräsentiert. Es mangelt besonders an Sprachkenntnissen. Die 2015 eingerichtete deutsch-ukrainische Historikerkommission konnte diese Lücke allein nicht schließen. Darüber sind sich die Fachvertreter, die in den „Jahrbüchern für Geschichte Osteuropas“ (Band 69) eine Zwischenbilanz ziehen, weitgehend einig. Bei der Frage, wie mit der nationalen Einheit der Ukraine umzugehen sei, unterscheiden sich dagegen die Temperamente. Groß ist die Sorge, sich als Historiker einer patriotisch überhöhten ukrainischen Nationalgeschichtsschreibung dienstbar zu machen. Sehr schnell ist immer wieder vom ukrainischen Nationalismus die Rede, etwa wenn die Frage aufgeworfen wird, ob schon die Bestätigung der Existenz einer ukrainischen Nation das Idealbild der dortigen Nationalisten übernehme. Damit wird Geschichtsschreibung jedoch selbst unter den Vorbehalt nationalistischer Deutungen gestellt. Man darf seinen Kollegen wohl zugestehen, zwischen Nation und Nationalismus unterscheiden zu können.