In letzter Zeit sind Formen und Praktiken literarischen und geisteswissenschaftlichen Arbeitens vermehrt in den Blick der Fachöffentlichkeit geraten. Die Baseler Literatursoziologin Carolin Amlinger hat mit „Schreiben. Eine Soziologie literarischer Arbeit“ ein viel gelobtes Buch über die politische und kulturelle Ökonomie der schriftstellerischen Arbeit geschrieben. Den konkreten Formen der Arbeit an Nipperdeys „Deutsche Geschichte 1800 – 1918“ hat Paul Nolte ein ebenfalls viel gelobtes und viel gelesenes Buch gewidmet. Die breitere Öffentlichkeit erfährt in diesen Büchern viel über etwas, was, der Legende nach, eigentlich nur in Isolation stattfindet: die literarische und die forscherische Tätigkeit. Beides sind Tätigkeiten in konkreten Praxiszusammenhängen, die jeweils das Werk prägen. Das einsame forscherische Genie scheint hier in Formen der Kollaboration zu verschwinden.
Die Literaturwissenschaftler Carlos Spoerhase und Steffen Martus setzten mit ihrem Buch „Geistesarbeit. Eine Praxeologie der Geisteswissenschaften (Frankfurt/M: Suhrkamp 2022) diesen Forschungstrend im vergangenen Jahr fort. Sie erzählen ein Gegenprogramm: Die Wissenschaftsgeschichte der Geisteswissenschaften wurde lange entweder als Geschichte der Ideen und Programme oder als Geschichte der Professionen und Institutionen geschrieben. Die programmatische Beschäftigung mit den Praxisformen der Geisteswissenschaften im Alltag, wie Publizieren, Redigieren, Lesen (ob digital oder analog), Surfen oder Googeln, Lesen lassen, Korrigieren und Überarbeiten, Vortragen, Kollaborieren und Interpretieren, Telefonieren, Exzerpieren, Notieren, Annotieren und andere mehr treten an die Stelle der großen Ideen einer Wissenschaft vom Geist, den bekanntlich Friedrich Kittler schon 1980 diesen ausgetrieben hatte.