Dem jungen Mann geht es wie so vielen Gleichaltrigen. Er mag sich nicht direkt nach dem Abitur für eine Berufsrichtung entscheiden – ist er doch vielseitig interessiert. Mehrere Möglichkeiten schweben ihm vor, völlig unterschiedliche überdies. Da kommt dem Schulabgänger ein neuer Studiengang an der Justus-Liebig-Universität gerade recht. Liberal Arts and Sciences heißt er. Viele Informationen dazu bietet die Gießener Hochschule in Internet nicht. Die Rede ist von Nachhaltigkeit, Digitalisierung und Wandel der Gesellschaft. Neugierig macht den Interessenten zudem der Hinweis: „Alle Studierenden, die von Anfang an dabei sind, können das Studienangebot aktiv mitgestalten.“
Thorsten Winter
Korrespondent der Rhein-Main-Zeitung für Mittelhessen und die Wetterau.
Katharina Lorenz bestätigt dies. Die Archäologin und Vizepräsidentin der Universität hat den Studiengang mit auf den Weg gebracht. Seit fünf Jahren lehrt und forscht sie in Gießen, zuvor war sie 13 Jahre in Nottingham wissenschaftlich tätig. In England hat sie Liberal Arts und Sciences mit natur- und geisteswissenschaftlichen Inhalten kennengelernt. Dort gebe es ebenso wie in den USA und den Niederlanden viele solcher Angebote, sagt sie. Hierzulande sind sie noch rar. Ihr fällt ein englischsprachiger Studiengang dieser Art in Freiburg ein und ein ganz neuer in Hamburg, der sich aber auf Geisteswissenschaften beschränke. Mithin ist der Gießener Studiengang ein Pilotprojekt in Hessen, wie Lorenz sagt.
In Paketen und Etappen studieren
Groß beworben hat die Universität das neue Angebot nicht. Doch haben 50 junge Menschen ihr Interesse bekundet. Sie erwartet ein ungewöhnlicher Zuschnitt. Nach Worten von Lorenz erlaubt das neue Angebot ein zeitlich flexibles Studium. Wer möge, könne es in Paketen und Etappen absolvieren. Die Universität wolle der Erkenntnis Rechnung tragen, dass Studierende noch andere Dinge zu erledigen hätten. Geld verdienen etwa oder an einem Start-up basteln. Die ersten beiden Semester sind als Orientierungsjahr angelegt – wie die Klasse 11 im Gymnasium. Danach sollen die Studenten sich für einen sogenannten Fach-Track entscheiden. Wollen sie den naturwissenschaftlichen Pfad einschlagen oder die geisteswissenschaftliche Richtung? Wobei es laut Lorenz in jedem Fall ein interdisziplinäres Angebot gibt, nur eben mit einem Schwerpunkt.
Im Orientierungsjahr stehen sechs Module mit je zehn Credit Points an. In einem geht es um „Institutionen, die Wissen produzieren“. Ein anderes lautet „Entscheiden“ und dreht sich etwa um die Frage, wie Menschen zum Wissenserfolg kommen. Lorenz spricht von der Einführung in unterschiedliche Fächerkulturen an der Universität. Und zwar als Entscheidungshilfe für junge Leute, die nicht genau wissen, wo ihre Talente liegen. Zugrunde liege auch die Annahme, der Ansatz dürfte besonders Studienanfänger ohne Akademiker-Eltern interessieren. Damit würde an die Initiative Arbeiterkind angeknüpft, die 2011 an der Liebig-Uni entstand.
- Veröffentlicht/Aktualisiert:
- Veröffentlicht/Aktualisiert:
- Veröffentlicht/Aktualisiert:
Entgegenkommen will die Hochschule auch etwaigen Studienabbrechern. Wer nach dem Orientierungsjahr nicht weitermachen wolle, erhalte gleichwohl ein Zertifikat, 60 Credit Points inbegriffen. Dann sei die Zeit nicht verloren. Auf diese Weise sollten Frustration und Misserfolgserlebnisse verhindert werden, sagt Lorenz.
Vom dritten Semester an erwartet Studenten der Liberal Sciences zum Beispiel ein Paket zum Thema Stadtentwicklung. Informatiker und Geografen arbeiten zu diesem Zweck zusammen. In den Liberal Arts geht es etwa um die Frage, wie Fake News von richtigen Nachrichten zu unterscheiden sind, wie Wissen entsteht und welche Arten von Wissen es gibt. Expertenwissen sei nur eine davon, Gebrauchswissen eine andere, erläutert Lorenz. Auch in diesem Fall treffen die Teilnehmer auf Wissenschaftler unterschiedlicher Fachbereiche aus Natur- und Geisteswissenschaften. Mit dabei sind der Wirtschaftsgeograph Stefan Hennemann, Politikwissenschaftler Claus Leggewie mit seinem „Panel for Planetary Thinking“, die Zeithistorikerinnen Hannah Ahlheim und Bettina Brockmeyer, Osteuropa-Spezialist Matthias Hegele und der Festkörperphysiker Christian Heiliger.
Das Ergebnis ist das Mitmach-Angebot
Angesichts dieses Konzepts verhehlt die Vizepräsidentin nicht anfängliche Diskussionen an der Uni um den neuen Studiengang. Sie und andere Wissenschaftler wüssten aber aus Gesprächen mit Abiturienten um deren verbreitete Schwierigkeit, gleich nach der Schule eine klare Richtung einzuschlagen. Das Ergebnis ist das Mitmach-Angebot. Wobei Lorenz einschränkt, ein Wünsch-dir-was sei nicht gemeint. Vielmehr werde die Hochschule die Erwartungen der Studierenden abfragen, um ihre Rückmeldungen zu den Modulen bitten und das Angebot wissenschaftlich bewerten lassen.
Zum allerersten Semester, für das die Einschreibefrist an diesem Mittwoch endet, gibt es keine Zulassungsbeschränkung. Angesichts des Zulaufs könnte sich das aber zum Oktober 2024 ändern, sagt Lorenz. Für die Teilnehmer des ersten Jahrgangs stehen 20 Stipendien zur Verfügung. Zudem fördert das Wissenschaftsministerium den Studiengang aus dem Quis-Programm, in dem es unter anderem um die Weiterentwicklung von Studium und Lehre im Verein mit Studenten geht.