Kolumne: „Nine to five“: Mit Lippenstift und Kaffeetasse

Frau B. erfuhr über das soziale Netzwerk L. davon: Ihre Bekannte, Frau M., hatte sich selbständig gemacht. Irgendwas mit Coaching. Frau M. hatte ein hübsches Selfie gepostet und ihre Geschäftsidee beschrieben. Sie freue sich, dass es endlich losgehe. Frau B. freute sich mit ihr, und sie setzte ein Like unter das Foto.

Nadine Bös

Redakteurin in der Wirtschaft, zuständig für „Beruf und Chance“.

Das hätte sie mal lieber nicht getan. Fortan spülte der Algorithmus des Netzwerks die komplette Start-up-Story von Frau M. detailliert in Frau B.s Timeline. Die erfuhr also, welche Assistentin Frau M. einstellte, wie das neue Büro aussah, welche Themen Frau M. bearbeitete, welche Dienstreisen sie unternahm. Sie sah die Kaffeetasse hinter knallrotem Lippenstift, mit der Frau M. fürs Selfie posierte, nahm die Tatsache wahr, dass Frau M. sich ein professionelles Shooting zu Werbezwecken geleistet hatte, und erfuhr Details über ihre Mittagspausen.

Eigentlich fand sie all das nicht uninteressant, schließlich war Frau M. eine nette Bekannte von ihr. Das Problem war eher das Netzwerk L. Während Frau B. die Geschichte von Frau M. verfolgte, kam sie nicht umhin, das ganze „Drumherum“ zu lesen. Denn auch die frischgebackenen Coaches E. (her/she), S. (her/she), N. (him/he) und wie sie alle hießen posteten fröhlich ihre Gründungsgeschichten. Und obwohl Frau B. diese Damen und Herren noch nie persönlich getroffen hatte, kannte sie mit der Zeit Dutzende geschmackvoller Kaffeetassen vor am Schreibtisch posierenden, hübsch geschminkten Lippen oder akkurat sitzenden Business-Hemden und Dutzende Tipps für die Kundenakquise, das Marketing und die Work-Life-Balance. Mindestens die Hälfte der Geschichten war dekoriert mit einem persönlichen Bekenntnis, entweder über einen Versagensmoment, ei­ne Situation des schlechten Gewissens oder gar ein kürzlich durchlittenes Burnout-Syndrom. Natürlich alles überstanden, draus gelernt, gern mit einer Prise Achtsamkeit und Meditation (Tipps dazu natürlich auch im Post auf L.).

Frau B. sah irgendwann keinen Ausweg mehr. Sie entfolgte Frau M. im Netzwerk L. und griff zum Telefon. Fragte Frau M. nach ei­nem persönlichen Treffen. Trank Kaffee mit ihr auf einer Konferenz. Es war richtig nett. Bloß musste Frau B. die ganze Zeit überlegen, woher sie die Dame kannte, die während eines Vortrags schräg vor ihr saß. Erst beim abendlichen Get-together fiel es ihr ein. Es war Frau E. aus ihrer Timeline. Ohne Lippenstift und Kaffeetasse war Frau E. wirklich schwer zu erkennen.

In der Kolumne „Nine to five“ schreiben wechselnde Autoren über Kuriositäten aus Büro und Hochschule.

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