Gedanken beim Lernen fürs Physikum

„Weniges unterscheidet die Lebensweise, die dem Intellektuellen anstünde, so tief von der des Bürgers, wie dass jener die Alternative von Arbeit und Vergnügen nicht anerkennt.“

Mich traf dieser Satz sehr, als ich ihn vor einigen Wochen in der F.A.S. las. Zwar ging es weder Adorno noch in dem Artikel, der ihn zitiert hatte, um mich und meinesgleichen, zwar schäme ich mich, einen Satz, in dem von Intellektuellen die Rede ist, auf mich als Studenten (zumal der Medizin!) im vierten Semester bezogen zu haben, zwar muss ich dazu noch bekennen, dass meine Kenntnis der „Minima Moralia“ nicht über die sprichwörtlich gewordenen Bruchstücke hinausgeht, und doch will ich all diese Einwände übergehen und erklären, wie ich dazu kam, mich getroffen zu fühlen.

Seit vielen Wochen sitze ich jeden Tag in der Bibliothek der Medizinischen Fakultät, komme, wenn sie öffnet, bleibe dort den ganzen Tag und lerne für das Physikum, unser erstes Staatsexamen. Es gibt gute und schlechte Tage, solche, an denen alles wie von selbst geht, und dann wieder Tage, an denen ich kaum voranzukommen meine, an denen ich nirgendwo weniger sein möchte als in dieser Bibliothek. Die schlechten Tage sind nicht bloß unerträglich, weil sie schlecht sind und die Prüfungen trotzdem näher rücken. Sie quälen mich auch, weil ich mich gerne als engagierten Studenten sehe, der beglückt seine Bücher wälzt und sich einen Aspekt des menschlichen Körpers nach dem anderen erschließt, der sich von Prüfungen nicht beirren lässt, der sich kaum darum kümmert, wann sie stattfinden, für den sie bloße Termine sind, die er nicht verpassen darf, aber kaum eines weiteren Gedankens würdigt. Schließlich tut er ohnehin, was ihm Freude macht, tut es aus eigenem Antrieb und unausgesetzt.

Mut zum vertieften Lernen

An solchen schlechten Tagen betrübt mich die Diskrepanz zwischen meinem Anspruch, meinem Glauben, meiner Hoffnung, meinem Wunsch, dieser Student zu sein, und der traurigen, halb enttäuschten, halb genervten Figur, die ich abgebe, mehr als jede inhaltliche Niederlage. Und auch an den guten Tagen behagt mir mein Tun nicht ganz, ist mir bewusst, dass ich immer nur nachvollziehe, was andere herausgefunden und aufgeschrieben haben, dass ich immer nur ansatzweise begreife, worum es geht, dass das Studium der Medizin in die Breite geht, nicht in die Tiefe, dass mir das Lernen oft Vergnügen bereitet, aber immer eine Pflicht ist.

Auf diesen Boden fiel der Satz, in dem Adorno – wie üblich – feststellt, was sein sollte, aber nicht ist, dass es nämlich dem Intellektuellen anstünde, vergnügt zu arbeiten und sich arbeitend zu vergnügen, er sich aber der bürgerlichen Welt nicht erwehren kann, die „die Verschränkung von Glück und Arbeit […] stets weniger duldet.“ Man wird mir vielleicht verzeihen, dass ich mich und meine Vorstellung vom idealen Studenten für einen Moment an die Stelle des Intellektuellen setzte und mein bevorstehendes Staatsexamen als Bedrängnis der bürgerlichen Welt deutete. Ich versichere, dass die Einsicht der Anmaßung auf dem Fuße gefolgt sei.

Es blieb und bleibt mein Hadern mit der Unlust am Lernen. In dem Glauben, dass ich als Student der Philosophie oder Literatur zumindest die Chance hätte, mich mit meinem Adorno-Vergleich nicht lächerlich zu machen, frage ich mich oft, warum ich mich gegen diese Fächer entschieden habe, deren Studien- und Prüfungsordnungen weniger einengen, die ihren Studenten den Freiraum gewähren, einzelne Themen ausführlicher zu behandeln als andere, in denen Leistungsnachweise erbracht werden, indem selbst gedacht, eigene Analysen angestellt, eigene Lesarten entwickelt, eigene Standpunkte vertreten werden. Dass es Mut erfordert, das Arbeitsleben dem Denken zu verschreiben, weiß ich. Und es fehlt zur Antwort auf meine Frage nur das Eingeständnis, dass ich nicht mutig genug war, mich gegen die Medizin zu entscheiden, gegen die Bequemlichkeit, Dinge halb nur zu verstehen, hinzunehmen, auswendig zu lernen und in der praktischen Tätigkeit als Arzt schnell wieder zu vergessen.

Ich weiß, dass ich so viel Mut nie aufbringen werde. An den besten der guten Tage aber bin ich mutig genug, das Staatsexamen zu vergessen, ein physiologisches Phänomen oder einen Stoffwechselweg so zu bearbeiten und zu zerdenken, als handelte es sich um ein philosophisches Problem, macht es mir nichts aus, dessentwegen viele andere Prüfungsthemen stiefmütterlich zu behandeln, vertraue ich mir und dem Impuls, so und nicht anders zu lernen. Gerade an diesen Tagen freue ich mich darauf, als Bürger den Kranken einer bürgerlichen Welt zu helfen, freue ich mich darauf, Arzt zu sein, weil ich mir einbilde, dass der Gegensatz zwischen Bürger und Intellektuellem so groß nicht zu sein brauche, wie Adorno behauptet.

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