Leute, ich bin spät dran“, ruft das Mädchen, das für seine große Schwester ein Abi-Plakat gestaltet hat. Ihre Freunde eilen herbei und versuchen, doch noch einen gut sichtbaren Platz am Zaun der Schillerschule zu ergattern. Das Plakat zeigt das verfremdete Logo vom „Bierkönig“, einer Party-Location auf Mallorca. Anstelle des Königs ist eine Porträtzeichnung der Abiturientin zu sehen, mit einem Humpen in der Hand, der Slogan lautet „Abikönigin“. Den Namen hat die Schwester vorsichtshalber weggelassen: „Sie wird sich schon wiedererkennen!“
Die Uhr zeigt zehn nach eins, aber nicht alle haben sich an die Vorgabe der Schulleitung gehalten, die Plakate erst ab 13.15 Uhr aufzuhängen. Das Abitur beginnt nämlich an diesem Mittwoch, und alle sollen die gleichen Chancen auf ein gut sichtbares Abi-Plakat haben. Aber so fair waren die meisten anderen Eltern oder Freunde nicht. Am Zaun ist kaum noch eine Lücke.
Keine Peinlichkeit riskieren
Kathrin und Peter Schönwandt haben Glück. Die Schulleitung gibt auch noch den Abschnitt vor der Eingangstür frei, direkt über dem Schriftzug des Gymnasiums in Sachsenhausen. „Wir haben durch Zufall einen Premiumplatz bekommen“, sagt der Vater. So kann Viktor sein Plakat kaum übersehen, wenn er in den nächsten zwei Wochen seine Klausuren schreibt. Sein Vater arbeitet als Grafiker, das Motiv ließ er auf stabile Lastwagenplane drucken, mit reißfesten Ösen.
Die meisten Eltern haben sich für die gedruckte Variante entschieden, die bemalten Bettlaken sind in der Minderheit. Zu sehen ist Viktor auf dem Plakat in Siegerpose: Er betreibt Rudern als Leistungssport, das Foto zeigt ihn nach dem Gewinn einer Regatta. Dazu der Spruch „Viel Erfolg fürs Finale“. Seine Eltern haben das mit ihm abgesprochen, verrät Mutter Kathrin. Zwar gehe dann die Überraschung verloren. Aber noch wichtiger sei es, dass das Plakat den Kindern nicht peinlich sei.
Die Schönwandts haben Kabelbinder und Draht dabei. Mit dem Gestalten und Anbringen von Abi-Plakaten haben sie schon Erfahrung. Viktor ist ihr drittes Kind, dem sie auf diese Weise ihre guten Wünsche für die Prüfungsphase übermitteln. Die Plakate seien eine schöne Tradition, findet die Mutter: „Wann wird man als Eltern heutzutage denn noch mit einbezogen?“ Sie wundert sich, dass es den Brauch, „Motivationsplakate“ aufzuhängen, nur in der Region gibt.
Plakate aus mehr als 25 Jahren
Woher sie stammen und wie sich die Abi-Plakate entwickelt haben, ist noch bis Mai in einer kleinen Ausstellung in der Hugendubel-Filiale am Steinweg zu erfahren. Stefan Jakob und Martin Berthoud, die sich als „Stadtteil-Historiker“ der Polytechnischen Gesellschaft mit der Tradition der Abi-Plakate beschäftigt haben, präsentieren dort das Ergebnis ihrer Recherche. Zu sehen sind 25 Plakate aus mehr als 25 Jahren. Die meisten stammen von der Wöhlerschule, an der ihre Recherche begann. Aber sie haben auch rund 600 Plakate von zwölf weiteren Frankfurter Schulen aus dem Jahrgang 2022 analysiert und kategorisiert.
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Die Plakate seien „ein Ritual zu einem Wechsel in einen neuen Lebensabschnitt“, meinen die Kuratoren. Die Texte und Bilder kreisen oft um die Themen Freiheit und Kampf. Auch sportliche Anspielungen tauchen immer wieder auf. Die popkulturellen Bezüge wandeln sich im Laufe der Zeit, von den Simpsons über Disney-Figuren und Superhelden bis zu Serienfiguren. Manche sind künstlerisch besonders anspruchsvoll und zitieren van Gogh oder Banksy.