Die Nationalsozialisten ermordeten im Holocaust Millionen Juden, bis das Töten am 8. Mai 1945 endete. Ein neues Buch schildert die Grausamkeit von Deportationen und Massenmord – basierend auf Zeugnissen der Verfolgten.

Ein Zug aus dem fernen Hamburg kam im November 1941 in Minsk an. Die Ankömmlinge erwartete im Ghetto der belarussischen Hauptstadt das Grauen: „Überall war Blut, und auf den Öfen und Tischen stand noch das Essen“, hat Heinz Rosenberg geschildert, was er damals sah. „Hunderte von Leichen bedeckten den Boden.“ Was war geschehen?

„Platz schaffen“ durch Massenmord, so lautet die zynische Antwort. Für die Transporte mit aus Deutschland deportierten Juden hatten die Nationalsozialisten zuvor die einheimische jüdische Bevölkerung umgebracht. Schock und Sprachlosigkeit empfingen die neu Angekommenen – und die grausame Ahnung, welches Schicksal sie selbst erwarten sollte.

„Heute wir, morgen ihr“, beschied ein überlebender Jude des vorigen Massakers der aus Deutschland verschleppten Erna Steiniger nach ihrer Ankunft im Ghetto. Im Falle von Erna Steiniger erwies sich diese Prophezeiung als falsch: Sie überlebte Minsk und eine Odyssee durch zahlreiche deutsche Konzentrationslager, darunter Majdanek, Auschwitz und Ravensbrück. So viele andere Deportierte kostete der von Deutschland im Rassenwahn verübte Holocaust das Leben.

Wie erlebten deutsche und österreichische Jüdinnen und Juden die Deportationen, welche Ängste, aber auch Hoffnungen hatten sie an den Orten, an die sie „nach Osten“ verschleppt worden waren? Nur wenige dieser Menschen überlebten wie Erna Steiniger den von Deutschland begangenen Zivilisationsbruch, um davon berichten zu können. Doch auch die Ermordeten haben Zeugnisse hinterlassen, etwa in Form von Briefen und Einträgen in Tagebüchern.

„Tag und Nacht geweint“

Andrea Löw, Historikerin und stellvertretende Leiterin des Zentrums für Holocaust-Studien am Institut für Zeitgeschichte München, hat auf Grundlage dessen ein Buch geschrieben. „Deportiert. ‚Immer mit einem Fuß im Grab‘ – Erfahrungen deutscher Juden“ ist ein wichtiges Buch, beeindruckend und schonungslos. Wichtig, weil es die zahlreichen Zeugnisse der Deportierten verdichtet und zu einem Strang der Erinnerung formt. Beeindruckend, weil die Deportierten als Individuen zu Wort kommen: Männer und Frauen, Junge und Alte. Und nicht zuletzt schockierend, weil das Buch demonstriert, zu welcher Grausamkeit Menschen imstande sind.

„Es wird Ihnen hiermit eröffnet, dass Sie innerhalb von drei Stunden Ihre Wohnung zu verlassen haben“, zitiert Löw eine Anordnung der Gestapo Darmstadt aus dem Frühjahr 1942. Von ihrem Eigentum durften die betroffenen Jüdinnen und Juden so gut wie nichts mitnehmen. „Wir haben Tag und Nacht geweint“, bekannte Trude Friedrich angesichts dieses Schocks.

Abschied hieß es auch von Freunden und Bekannten zu nehmen, wenn der Deportationsbefehl eintraf. „Mein Leben lang werde ich diesen Abschied nicht vergessen“, beschrieb Siegfried Weinberg die Trennung von seiner Mutter. „Betet für uns und gedenket unser, erzählet es Euren Kindern wieder, wie wir zu Tode gepeinigt wurden“, schrieb Gretel Klein an ihre Kinder, die zuvor im Ausland in Sicherheit gebracht worden waren. Das Ehepaar Klein überlebte die Deportation nicht.

Das Berliner Reichssicherheitshauptamt zeichnete für die seit dem Herbst 1941 einsetzenden „systematischen Deportationen der Jüdinnen und Juden aus dem Großdeutschen Reich“ verantwortlich, wie Andrea Löw schreibt. Bereits die Zustände in den Deportationszügen waren himmelschreiend. „Jetzt wussten wir alle, dass kein Pardon zu erwarten war“, beschrieb der Gelsenkirchener Bernd Haase seine Verschleppung nach Riga. „Die Kinder schrien nach Wasser, alte und kranke Menschen litten jetzt schon unsäglich unter der immer mehr zunehmenden Kälte.“

Ermordet kurz nach der Ankunft

In Riga, aber auch wie beschrieben in Minsk, hatten die dortigen SS- und Polizeieinheiten „Platz geschaffen“ durch die Ermordung der dortigen jüdischen Bevölkerung. Aber auch den Jüdinnen und Juden aus Deutschland sollten die Nationalsozialisten letztlich den Tod bringen. Im Herbst 1941 ermordeten sie im Wald von Rumbula in Riga neben Tausenden lettischer Juden auch mehr als 1.000 aus Berlin Deportierte.

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