Wieso wird derzeit so viel gestreikt? Streikforscher Alexander Gallas sieht dafür vor allem drei Gründe. Im Interview mit t-online erklärt er, welche.

So reich an Streiks beginnt ein Jahr selten: Wenn die Deutsche Bahn nicht gerade streikt, ist es der öffentliche Nahverkehr. Oder das Bodenpersonal am Flughafen. Oder das Pflegepersonal in Kliniken.

Woran liegt das? Und wird sich das fortsetzen? Ja, meint Alexander Gallas. Der Streikforscher sieht vor allem drei Gründe, weshalb sich genau jetzt die Streiks intensivieren.

t-online: Herr Gallas, fast wöchentlich erlebt Deutschland derzeit große Streiks, die das Land lahmlegen. Oft kommt der Vergleich zu Frankreich auf, wo es immer wieder große Proteste gibt. Drohen in Deutschland französische Verhältnisse?

Alexander Gallas: Jein. Grundsätzlich wird in Frankreich vier- bis fünfmal so viel gestreikt wie bei uns. Die endgültigen Zahlen für 2023 und die ersten Monate von 2024 liegen zwar noch nicht vor. Es zeichnet sich allerdings ab, dass sich das Streikgeschehen in Deutschland intensiviert hat. Wir hatten bereits 2015 ein intensives Jahr, 2023 wahrscheinlich wieder. Gleichzeitig ist es aber auch so, dass anders gestreikt wird: Wir haben vor allem Streiks im Dienstleistungsbereich und in der öffentlichen Infrastruktur, die die Menschen in ihrem Alltag viel stärker beeinflussen.

Warum häufen sich die Streiks derzeit?

Drei Gründe sind entscheidend: Wir haben einerseits einen Arbeitskräftemangel – gerade in den Branchen, in denen nun viel gestreikt wird. Die Angestellten sind also bereit, ins Risiko zu gehen und Forderungen an ihre Chefs zu stellen. In Zeiten mit hoher Arbeitslosigkeit ist das anders. Das zweite Problem ist die Überlastung. Gerade bei der Bahn bleiben viele Stellen unbesetzt, es gibt einen hohen Krankenstand. Der Personalstand ist weniger als halb so hoch wie zu den Wendezeiten 1989/90. Das ist eine wirklich dramatisch große Lücke. Das heißt für die Angestellten, dass sie sehr viele Überstunden machen und Frust aufbauen.

Die schwache Reallohnentwicklung. Durch die Inflation 2022 sind die Reallöhne in Deutschland um vier Prozent gesunken. Gerade die Menschen, die nicht so viel verdienen, spüren das sehr deutlich im Geldbeutel. Das alles zusammen macht es zu einem günstigen Zeitpunkt für die Gewerkschaften, etwas zu erreichen.

(Quelle: privat)

Zur Person

Dr. Alexander Gallas ist Politikwissenschaftler und forscht an der Universität Kassel zu Streiks. Mitte des Jahres erscheint sein Buch „Exiting the Factory: Strike and Class Formation Beyond the Industrial Sector“, zu Deutsch: „Der Ausstieg aus der Fabrik: Streik und Klassenbildung jenseits des industriellen Sektors“.

Besonders der Fachkräftemangel wird uns wohl noch einige Jahre begleiten. Müssen wir uns auf streikintensive Jahre vorbereiten?

Ja. Die Deutschen werden immer älter, der Arbeitskräftemangel wird sich also nicht in Luft auflösen. Allerdings könnte die sogenannte sektorale Verlagerung den Arbeitsmarkt entlasten. Dass also einige Branchen im Zuge der ökologischen Transformation unter Druck geraten und dort im spürbaren Ausmaß Stellen abgebaut werden, Beispiel Automobilzulieferindustrie oder Stahlindustrie. Diese Arbeitskraft könnte also, sehr verkürzt gesprochen, woanders eingesetzt werden.

Es wird auch oft angeführt, dass die Gewerkschaften mit Streiks um Mitglieder werben und dass das auch ein Faktor sein kann, warum die Streiks derzeit so groß ausfallen und teilweise auch so schnell ausgerufen werden.

Streiks machen die Gewerkschaften attraktiver, das ist ein Fakt. Dafür gibt es ganz simple Gründe, wie etwa das Streikgeld, dass man nur ausgezahlt bekommt, wenn man in der Gewerkschaft ist. Erfolgreiche Streiks zeigen zudem potenziellen Neumitgliedern, dass die Gewerkschaft für sie kämpft und spürbare Verbesserungen schafft. Es ist auch überlebenswichtig für Gewerkschaften, neue Mitglieder zu gewinnen. Seit 1990 sind die immer kleiner geworden. Nun zeichnet sich aber eine gewisse Trendumkehr ab.

Sie meinen, dass die Gewerkschaften im vergangenen Jahr relativ viele neue Mitglieder verzeichnet haben. Kann man an der Stelle tatsächlich schon von einer Trendumkehr sprechen?

Da muss man natürlich vorsichtig sein: Ist es ein klarer Trend oder ein einmaliges Ereignis? Interessant ist aber, dass unter den vielen neuen Mitgliedern – allein Verdi spricht von 200.000 – viele junge Menschen sind. Das könnte auf eine Trendumkehr hindeuten. Und auch in anderen Ländern beobachten wir eine ähnliche Entwicklung.

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